Kalter Kaffee

Sie sagen, ich sei hübsch. Sie sagen, ich habe schöne Augen. Sie sagen, sie mögen mich. Doch sie lügen. Ich kann ihr Gekicher hinter meinem Rücken hören!“

Sie versteckte sich hinter ihren Händen. Leises Schluchzen drang hervor. Ihr Gegenüber regierte nicht darauf.

„Was macht dich da so sicher? Wäre es nicht möglich, dass sie wirklich versuchen, dir Komplimente zu machen?“ Durch eine kleine Lücke in ihrer fleischlichen Mauer schaute sie den Mann an.

„Nein, sie sind Monster. Sie planen was. Ich kann es fühlen. Was ist, wenn sie mir was antuen wollen?“ Das junge Mädchen riss ihre Augen auf. Die Hände, die zuvor ihr Gesicht verzierten, legten sich auf ihren Hals. Leicht drückte sie zu. Ein Röcheln drang aus ihrer Mundhöhle. Ihre Lippen zierte ein Grinsen.

„Niemand wird dir was tun. Du bist hier sicher.“ Ihr Grinsen wurde stärker, genauso wie der Druck auf ihren Hals. „Was macht dich da so sicher?“ imitierte sie ihren Bekannten. Trotz ihres Alters sprach sie wie eine Dreijährige. Blitzschnell zog sie ihre Hände von ihrer Luftröhre. Sie ließ sie in ihren langen Ärmeln verschwinden. Zurück in ihrer Rolle als Unschuldslamm schaute sie ihn
traurig von unten an. „Beschützt du mich, wenn sie kommen?“

Ein Seufzen entrann seiner Kehle. Er wusste, wie unnötig das alles hier war. Bei seinem vollen Stundenplan konnte er jemanden wie sie nicht gebrauchen. Sie hatte kein Interesse an seiner Hilfe. Sie wollte nur jemanden, der ihr sagte, was sie hören wollte. „Es gibt sie nicht. Wie oft müssen wir das noch durchspielen? Das alles passiert in deinem Kopf. Die Stimmen sind in deinem Kopf.“

Fauchend sprang sie auf. Ihre aufgesetzte Niedlichkeit flog davon. „Ich bin ihr das Opfer! Ich!“ „Nein, du bist nicht das Opfer. Du machst dich nur selbst zu einem.“

Die Furie schrie ihn an. „Ich bin das Opfer. Ich. Ich. Ich!“ Mit den kleinen Händen stützte sie sich auf seinem Schreibtisch ab. Das meiste ihrer Finger wurden von ihrem rosa farbenen Pullover verdeckt. Ohne lange zu überlegen, lehnte sie sich noch weiter über seinen Arbeitsplatz. Ihre Rechte griff nach seinen Haaren. Doch sie war zu langsam. Ihr einziger Zuhörer hatte schon zuvor
den kleinen roten Knopf gedrückt, der sich unter seinem Tisch befand. Wachleute aus den hintersten Ecken der Einrichtung kamen angerannt und hielten sie von Weiterem ab. Schreiend wurde seine Patientin herausgetragen – mit Händen und Füßen zappelnd. Er zeigte kein Interesse für sie, nur für die Tasse vor ihm. Schon wieder kalt

Kurzgeschichte „Kalter Kaffee“ von Marie Sieber
30. März 2020
(© 2020 – Marie Sieber)